Bild: Syda Productions / fotolia
Neuralrohrdefekte durch Folsäuremangel
Laut einer aktuellen Studie mit über neun Millionen Schwangeren in Europa traten in einem Zeitraum von elf Jahren 8400 Fälle von Neuralrohrdefekten auf.1 Mit einer ausreichenden Versorgung der Schwangeren mit Folsäure hätten die meisten Fälle verhindert werden können. Die Wissenschaftler bemängeln die in ganz Europa fehlende Pflicht, Grundnahrungsmittel mit Folsäure anzureichern. In Verbindung mit dem Umstand, dass 86 Prozent der Frauen in Deutschland mit Folsäure unterversorgt sind, wird dadurch die Bedeutung von Folsäure-Supplementen vor und während der Schwangerschaft besonders deutlich.2
Die ersten vier Wochen nach der Befruchtung der Eizelle sind für die Ausbildung des Nervensystems und Gehirns des Embryos von entscheidender Bedeutung. Vitalstoffdefizite, wie zum Beispiel Folsäuremangel, können in dieser Phase dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit des Ungeborenen haben oder sogar zu einer Totgeburt führen. Ursache hierfür kann beispielsweise eine Fehlbildung des sogenannten Neuralrohrs sein, bei der es zu einer gestörten Entwicklung des Zentralnervensystems kommt. Die beiden häufigsten Formen eines Neuralrohrdefekts sind die Anenzephalie (im Deutschen: „ohne Gehirn“) und die Spina bifida, auch Wirbelspalt genannt. Beide Störungen entstehen, wenn das Neuralrohr nicht bis zum 28. Tag nach der Empfängnis geschlossen wurde – mit gravierenden Folgen. Eine Anenzephalie führt in der Regel noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt zum Tod. Dagegen sind Säuglinge mit Spina bifida meist überlebensfähig, haben aber ein zehnfach höheres Sterberisiko als gesunde Kinder und lebenslange Behinderungen. Dies kann aber im Vorfeld durch eine gute Vitalstoffversorgung verhindert werden.1
Neuralrohrdefekte in Europa aufgrund mangelnder Folsäureversorgung
Ein großer Teil der Fälle mit Spina bifida kann durch eine ausreichende Folsäureaufnahme vor und während der Schwangerschaft vermieden werden, wie zahlreiche Studien zeigen. Aus diesem Grund gibt es in über 70 Ländern, beispielsweise in den USA und Kanada, eine gesetzlich vorgeschriebene Anreicherung von Folsäure in Grundnahrungsmitteln, wie zum Beispiel bei Mehl. Dies hat dazu geführt, dass die Prävalenz von Anenzephalie und Spina bifida auf circa 5 Fälle pro 10.000 Geburten zurückgegangen ist. Im Gegensatz dazu haben es alle europäischen Länder bislang versäumt, eine derartige Folsäureanreicherung einzuführen. Dies hat laut führenden Wissenschaftlern zu einer regelrechten Epidemie an Neuralrohrdefekten in Europa geführt. Im Vergleich zu Ländern wie den USA und Kanada liegt die Prävalenz von Anenzephalie und Spina bifida um 60 Prozent höher, wie eine Studie mit über neun Millionen Schwangeren ergab. Daher empfehlen die Wissenschaftler dringend eine verpflichtende Folsäureanreicherung in Europa. Denn allein in Deutschland könnten auf diese Weise jedes Jahr 293 Fälle an Spina bifida vermieden werden.1
Folsäure-Supplementation vor und während der Schwangerschaft
Gerade in Ländern ohne Anreicherung von Grundnahrungsmitteln ist hinsichtlich der Folsäureversorgung eigenverantwortliches Handeln der Frauen im gebärfähigen Alter gefragt. Der Ernährungsbericht 2012 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat gezeigt, dass eine ausreichende Versorgung von Schwangeren nicht durch die Nahrung erreicht wird. Nur mittels folsäurehaltiger Vitaminpräparate kann in der Praxis der Richtwert für Schwangere von 550 µg pro Tag erreicht werden.3 Erfolgt eine Einnahme erst nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, kann es bereits zu spät sein, wie eine Studie in Großbritannien beschreibt. Neuralrohrdefekte manifestieren sich bereits in den ersten acht Wochen nach der Befruchtung. Eine Supplementierung mit Folsäure ist daher schon vor der Schwangerschaft erforderlich, um Neuralrohrdefekte zu vermeiden.4 Mehrere Studien zeigten, dass eine Supplementierung vor und während der Schwangerschaft mit mindestens 400 µg Folsäure pro Tag zu einem deutlichen Rückgang an Neuralrohrdefekten bei der Geburt führte.5,6 Daher empfiehlt die DGE denjenigen Frauen, die schwanger werden möchten oder könnten, als Ergänzung zu einer folatreichen Ernährung, täglich 400 µg synthetische Folsäure in Form eines Präparats zu sich zu nehmen, um Neuralrohrdefekten vorzubeugen.7
Was während der Schwangerschaft noch benötigt wird 8,9
- Eisenmangel ist ein häufiges Problem vieler Frauen. Um eine gute Versorgung des Kindes sicherzustellen, sollte auf eine ausreichende Versorgung geachtet werden.
- Auch Omega-3-Fettsäuren dürfen während der Schwangerschaft nicht zu kurz kommen, da sie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Gehirns und der Augen spielen. Bei unregelmäßigem Fischverzehr empfiehlt sich daher die Supplementation von 200 mg DHA pro Tag.
- Da die Aufnahme von Vitamin D meist unzureichend ist, rät auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung bei einem Mangel an Sonnenlicht wie z.B. im Winterhalbjahr zur Supplementation. Denn Vitamin D ist für die Knochenmineralisation des ungeborenen Kindes von entscheidender Bedeutung.
- Um eine verlangsamte Entwicklung und Hirnschwund bei Neugeborenen zu vermeiden, sollten insbesondere Vegetarierinnen und Veganerinnen auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B12 achten.
Quellen:
1) Obeid R et al.; Preventable spina bifida and anencephaly in Europe; Birth Defects Res A Clin Mol Teratol. 2015 Sep;103(9):763-71.
2) Max Rubner-Institut Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel; Nationale Verzehrsstudie II; 2008.
3) Obeid R et al.; Folate status and health: challenges and opportunities; J Perinat Med. 2015 Mar 31 [Epub ahead of print] p.1-6.
4) Bestwick JP et al. Prevention of neural tube defects: a cross-sectional study of the uptake of folic acid supplementation in nearly half a million women; PLoS One. 2014 Feb 19;9(2):e89354.
5) De-Regil LM et al.; Effects and safety of periconceptional folate supplementation for preventing birth defects. Cochrane Database Syst Rev 2010; 10:CD007950.
6) Koletzko B et al.; Gesundheitliche Bedeutung der Folsäurezufuhr. Dtsch Ärztebl Int 2004; 101:A1670–A1681.
7) https://www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/folat/; abgerufen am 19.10.2015
8) Koletzko B et al.; German National Consensus Recommendations on Nutrition and Lifestyle in Pregnancy by the ‘Healthy Start – Young Family Network’; Ann Nutr Metab. 2013;63(4):311-22.
9) Kocaoglu C et al.; Cerebral atrophy in a vitamin B12-deficient infant of a vegetarian mother; J Health Popul Nutr. 2014 Jun;32(2):367-71.