Es war ein Kobold, ein kauziger Berggeist, der nach einer alten Sage den Bergleuten vorgemacht hat, Silber gefunden zu haben. Dabei war es silbrig glänzendes Kobaltoxid, im 18. Jahrhundert als nicht besonders wertvoll eingestuft. Für den Menschen allerdings ist Kobalt – wie wir heute wissen – lebensnotwendig, als Zentralatom im Vitamin B12, das daher auch Cobalamin genannt wird. Noch immer liegt manches Wissen über den Vitalstoff im Verborgenen.
Prof. Dr. Klaus Pietrzik von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Privat-Dozent Dr. Michael Linnebank vom Universitätsspital Zürich sind zwei Wissenschaftler, die in ihrer Forschungstätigkeit zum Vitamin B12 bereits viel Licht ins Dunkel gebracht haben. Im Sommer 2012 trafen sie sich zu einem GIVE-Expertengespräch in Berlin, um über die „Versorgung mit Vitamin B12 im Alter“ zu diskutieren. Dabei gab das Kolloquium Anlass, mit einigen „Mythen“, die sich um das Cobalamin ranken, aufzuräumen und den aktuellen wissenschaftlichen Stand darzustellen.
Achtung bei den Babys von Veganerinnen
Zunächst scheint es mit dem Vitamin B12 ganz unproblematisch zu sein. Wer sich über eine Mischkost ernährt, mit Leber, Fleisch, Fisch oder Milchprodukten, und gesund ist, wird im Regelfall kaum unter einem Vitamin-B12-Mangel leiden. Der tägliche Bedarf liegt laut Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bei 3 Mikrogramm für Jugendliche und Erwachsene. Das ist nicht viel, schließlich geht der Organismus sehr sparsam mit dem Vitamin um. Sind die Speicher in Leber und Skelettmuskulatur erst einmal aufgefüllt, kann es Jahre dauern, bis sich Mangelsymptome entwickeln. Also Entwarnung?
Dem widerspricht Prof. Pietrzik vehement: „Wir müssen die Risikogruppen identifizieren und diesen Vitamin B12 prophylaktisch geben, so wie es in den USA und Schweden bereits geschieht!“. Wie kommt es zu dieser klaren Gegenposition? Leicht zu verstehen ist dies bei Vegetariern und ganz besonders bei Veganern, die eben keine „Mischköstler“ sind. Sie verzichten unter Umständen auf jegliche relevante Vitamin-B12-Quelle, so auch auf Milch, Käse und Eier. Sie können in eine Mangelsituation geraten. „Wirklich ernst“, so der Mediziner Dr. Linnebank, „wird es bei den Kindern, die von vegan lebenden Müttern gestillt werden. Die Kinder sind nicht selten geistig retardiert. Hier ist eine Beratung und Nahrungsergänzung unbedingt erforderlich.“
Gutes Angebot – schlecht angenommen
Doch gehören nicht nur die Veganer zur Risikogruppe, es sind insbesondere die Senioren, die Gefahr laufen, unbemerkt und fortschreitend in eine Vitamin-B12-Unterversorgung zu geraten. Der Grund dafür liegt in einem spezifischen Problem: Es ist nicht die Zufuhr von Vitamin B12, die ist auch bei älteren Menschen generell ausreichend. Es ist die Verwertung des Cobalamins, die besonders im Alter Probleme bereiten kann.
Die Erklärung liegt im Aufnahmemechanismus des Vitamin B12 im menschlichen Körper. Die zentrale Funktion übernimmt dabei ein im Magen gebildetes Transportprotein, der so genannte Intrinsische Faktor (IF). Dieser bindet das aus der Nahrung stammende Vitamin B12, aber nur, wenn es als freies Molekül – und nicht eiweißgebunden – verfügbar ist. Die Freisetzung ermöglicht Pepsin, das dafür ein sehr saures Milieu im Magen benötigt. Konkret darf der pH-Wert nicht höher als 2 sein. Schließlich wird der Vitamin-B12-Komplex im Ileum, dem letzten Abschnitt des Dünndarms, von den Darmzellen aufgenommen und seiner biologischen Funktion zugeführt.
Sauer macht rüstig
Ist der pH-Wert im Magen allerdings höher als 2, kann dieser sehr wichtige Stoffwechselprozess nicht ablaufen. Dafür gibt es zahlreiche Ursachen, insbesondere bei älteren Menschen. Bei ihnen ist die Magensaftproduktion oftmals herabgesetzt, zudem sorgen viele – und häufig verwendete – Medikamente für eine Säureblockade. Dazu zählen Antacida, H2-Rezeptor-Antagonisten, Protonenpumpenhemmer. Die Magensäure ist also bei vielen Senioren ein Problem, und Gastritis-Erkrankungen sind sehr verbreitet. Laut Prof. Pietrzik leiden allein 20 bis 50 Prozent der Menschen über 60 Jahre an einer Magenschleimhautentzündung, in vielen Fällen verursacht durch Helicobacter pylori. Wird diesen Umständen nicht durch eine Vitamin-B12-Supplementierung Rechnung getragen, haben diese Senioren trotz einer vielleicht gesunden und abwechslungsreichen Ernährung ein Unterversorgungsrisiko, das mit der Zeit immer größer wird.
Es gibt auch andere – wenn auch erheblich seltenere – Gründe, die zu einer gestörten Vitamin-B12-Aufnahme führen. Sie können auch jüngere Menschen betreffen. Dazu zählen ein Gendefekt zur IF-Bildung, eine Ileum-Erkrankung wie Morbus Crohn oder der parasitäre Befall mit einem Fischbandwurm.
Ohne Vitamin B12 und Folsäure in die Sackgasse
Was sind nun die Folgen einer dauerhaften Vitamin-B12-Unterversorgung? Das Cobalamin ist ein Co-Faktor im Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel. Eine wichtige Funktion hat das Vitamin bei der Synthese der essentiellen Aminosäure Methionin aus einer anderen Aminosäure: Homocystein. Methionin wird unter anderem zur Bildung von Neurotransmittern, Phospholipiden und zum Aufbau der nervenschützenden Myelin-Scheide benötigt. Betroffen sind hier also vorwiegend neurologische Funktionen. Vitamin B12 ist aber auch zum Aufbau der DNA erforderlich und damit zur Zellteilung und Vermehrung der Zellen. Dies betrifft besonders Knochenmarkzellen, die zu roten Blutkörperchen differenzieren.
Ohne Vitamin B12 wird kein Methionin gebildet, und es kommt zu einem Homocystein-Stau. Ein erhöhter Spiegel gilt als ein Risikofaktor für Gefäßerkrankungen. Für die Umwandlung von Homocystein zu Methionin wird neben Vitamin B12 auch Folat benötigt. Es überrascht also nicht, dass die Mangelsymptome beider Vitamine ähnlich sein können. Ist nicht genügend Vitamin B12 verfügbar, dann entsteht eine so genannte „Folsäure-Falle“. Es ist eine Stoffwechsel-Sackgasse mit einem hohen Folsäure-Spiegel im Serum und einer zu niedrigen Konzentration in den Gewebezellen, zu denen auch die roten Blutkörperchen zählen.
Mangel geht auf die Nerven
Die typische Konsequenz einer dauerhaften Vitamin-B12-Unterversorgung erkennt man im Blutbild als perniziöse Anämie. Dabei werden zu wenige und vergrößerte rote Blutkörperchen gebildet. Diese Form der Anämie kann durch hohe Folsäure-Gaben gelindert werden. Es besteht dann aber die Gefahr, den eigentlichen Vitamin-B12-Mangel zu maskieren und neurologische Symptome nicht zu behandeln.
Diese stellen sich meist sehr unspezifisch ein, mit Einschränkungen des Tastsinnes, Gangunsicherheiten, Koordinations- und Konzentrationsstörungen, Gereiztheit und Depressionen. Es sind Erscheinungsbilder, die oft einfach dem Alterungsprozess zugeschrieben werden. Häufig aber sind es Vorstufen einer ausgeprägten Vitamin-B12-Mangelsymptomatik. Dazu zählt die funikuläre Myelose, bei der Regionen des Rückenmarks aufgrund von Aufbaustörungen im nervenschützenden Myelin degenerieren. Laut Dr. Linnebank gibt es in der neueren wissenschaftlichen Literatur auch immer mehr Hinweise darauf, dass die Vitamin-B12-Unterversorgung die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz begünstigen. Auch andere neurologische Erkrankungen – wie Epilepsie – bilden aktuell einen Forschungsschwerpunkt im Zusammenhang mit dem Vitamin-B12-Status.
Richtig behandeln durch richtig messen und richtig dosieren
Wie kann ein Mangel an Vitamin B12 behoben werden? Über die Ernährung oft nicht. Das würde eine volle Funktion des Intrinsischen Faktors voraussetzen, dessen Ausfall ja häufig gerade eine Unterversorgung bedingt. Bei optimaler Aktivität schafft es der IF, etwa 1,5 Mikrogramm Vitamin B12 pro Mahlzeit verfügbar zu machen. Das ist ausreichend, jedoch kann die Leistung des Transportproteins nicht gesteigert werden. Aus diesem Grund ist auch eine Vitamin-B12-Supplementierung in einer moderat höheren Dosierung im Prinzip nicht sinnvoll. Das IF-System hat immer ein klares Limit, im Krankheitsfall geht es gegen null.
Der Ausweg liegt in einer sehr hohen Vitamin-B12-Dosierung. Denn dann zeigt ein anderes Prinzip – die Diffusion – Wirkung: Durch eine passive Resorption kann der nicht mehr vorhandene IF-Transport ersetzt werden. Etwa 1 Prozent der Gabe wird per Diffusion im Dünndarm aufgenommen. Pharmakologisch muss die Vitamin-B12-Supplementierung oberhalb von 100 Mikrogramm liegen. Die Tablettenform ist sehr gut geeignet dafür, eine intramuskuläre Injektion ist in der Erhaltungstherapie in der Regel nicht unbedingt erforderlich, wird aber aus Compliance-Gründen immer noch sehr viel gemacht. Dr. Linnebank beschreibt exemplarisch einen klinischen Fall, bei dem eine junge Frau mit funikulärer Myelose aufgrund einer IF-Antikörperbildung auf diese Weise erfolgreich behandelt werden konnte.
Wer also ein wenig tiefer in die Vitamin-B12-Diskussion einsteigt, versteht den Konsens des Berliner Expertengesprächs, die Risikogruppen zu identifizieren, eine sensible Vitamin-B12-Diagnostik anzuwenden und das Cobalamin auch vorbeugend in einer ausreichend hohen Dosierung zu verabreichen. Die Wissenschaft bringt die vielfältigen Funktionen des Vitamin B12 immer mehr ans Licht.
Quelle:
Kwok T et al.; Vitamin B12 supplementation improves arterial function in vegetarians with subnormal vitamin B12 status, J Nutr Health Aging 2012; 16(6):569-573