Die empfohlene tägliche Dosis für Vitamin D ist nach oben korrigiert worden. Bisher galt in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie in vielen anderen Industrieländern der Richtwert von fünf Mikrogramm oder 200 Internationalen Einheiten (I.E.). Inzwischen gehen die wissenschaftlichen Fachorganisationen davon aus, dass dieser Wert zu niedrig ist und empfehlen eine deutlich höhere Tageszufuhr von 20 Mikrogramm oder 800 I.E.
Diese Korrektur zeichnete sich seit längerem ab. Schon seit Jahren hatten verschiedene Wissenschaftler immer wieder den offiziellen Richtwert in Frage gestellt. Vor allem in den USA sprachen sich mehr und mehr Mediziner für eine höhere Tagesdosis besonders für ältere Menschen aus. Erst 2008 kritisierte eine Studie der amerikanischen Universität in Beirut/Libanon die Tageszufuhr für Kinder von 200 I.E. als deutlich zu niedrig. Um während des Wachstums einen gesunden Skelettaufbau zu gewährleisten, sei demnach die bis zu zehnfache Dosis, also 2.000 I.E., als notwendig und sicher zu empfehlen1.
Vitamin D ist unerlässlich, um Calcium aus der Nahrung aufzunehmen und um Knochensubstanz aufzubauen; Defizite führen unter anderem zu brüchigen Knochen. Der fettlösliche Mikronährstoff gelangt entweder mit der Nahrung in den Darm, wo er zu etwa achtzig Prozent resorbiert wird, oder er wird in der Haut aus einer cholesterinähnlichen Vorform unter dem Einfluss von UVB-Strahlung gebildet. Allerdings gilt dies nur bei entsprechend intensiver Einstrahlung; in Mitteleuropa nur während etwa sechs Monaten und nicht im Winter – und auch dann nur in den Mittagsstunden etwa zwischen 10 und 15 Uhr. Während dieser Zeit reicht andererseits im Hochsommer schon ein zehnminütiger Spaziergang, um den Tagesbedarf komplett zu decken.
Vitamin D hat eine biologische Halbwertszeit von ein bis zwei Monaten und wird im Fettgewebe gespeichert. Wer im Sommer viel Sonne tankt, kann sich damit also keinen Vitaminvorrat für den Winter zulegen. Erfahrungsgemäß werden die höchsten Serumwerte im September erreicht, um dann bis ins Frühjahr auf ihr Jahrestief abzufallen.
Wie viel Vitamin D in der Haut gebildet wird, hängt von mehreren Faktoren ab: vom Sonnenstand, von der bestrahlten Hautfläche, von Hautfarbe und -typ und auch vom Alter. Dunkle Haut – die in der Regel an intensive Sonne besser angepasst ist – produziert weniger, helle Haut mehr. Dunkelhäutige Menschen, die im Norden leben, laufen damit verstärkt Gefahr, ihren Vitamin-D-Bedarf nicht ausreichend zu decken. Das Risiko dafür steigt auch mit zunehmendem Alter: Die Haut ist dann immer weniger in der Lage, Vitamin D zu bilden. Senioren benötigen dazu für die gleiche Dosis bis zu viermal mehr Sonnenlicht als junge Menschen.
Ältere Menschen sind d i e Risikogruppe für Vitamin-D-Mangel schlechthin: Sie halten sich seltener im Freien auf, auch weil sie häufig weniger mobil sind. Weil die Fähigkeit der Haut zur Vitamin-D-Synthese im Alter abnimmt, wird die Zufuhr aus der Nahrung (z. B. fetter Seefisch) oder mit Nahrungsergänzungsmitteln um so wichtiger. Viele Senioren ernähren sich aber eher ungesund, nehmen oft vitaminarme Fertiggerichte zu sich und bevorzugen aufgrund von Kaubeschwerden lang gekochte Speisen. Wegen des hohen Osteoporose- und Knochenbruchrisikos im Alter und den oftmals damit verbundenen schwerwiegenden Komplikationen ist Vitamin D ganz besonders wichtig für diese Bevölkerungsgruppe. Lange Zeit hatte man hinsichtlich der Knochengesundheit den Fokus vorwiegend auf Calcium gelegt. Heute weiß man, dass es vor allem auf Vitamin D ankommt, nur zusammen damit ist eine Calcium-Supplementierung sinnvoll. Allerdings spielt auch die Dosis eine Rolle, wie eine schweizerische Studie belegt. Demnach stürzten über 65-Jährige weniger oft (etwa zwanzig Prozent weniger) als ihre Altersgenossen, wenn sie 700 bis 1.000 I.E. Vitamin D täglich supplementiert bekamen. Tagesdosen von weniger als 700 I.E. hatten dagegen keinerlei Einfluss auf die Sturzhäufigkeit2.
Nichtsdestoweniger kommt auch der Nahrung erhebliche Bedeutung als Vitamin-D-Quelle zu. Dies gilt nicht nur für Risikogruppen wie Senioren. Gerade sehr blasse Menschen, deren Haut besonders gut Vitamin D bilden kann, betrachten etliche Wissenschaftler inzwischen als mangelgefährdet. Diese paradoxe Situation erklärt sich aus dem höheren Hautkrebsrisiko für sehr Hellhäutige. Sie bekommen so schnell einen Sonnenbrand, dass sie oftmals nicht in der Lage sind, ausreichend lange Zeit UVB-Strahlung aufzunehmen. Britische Wissenschaftler raten solchen Menschen deshalb zu Vitamin-D-Präparaten. Von den 1.200 Testpersonen ihrer Studie waren mehr als 60 Prozent nicht optimal mit dem Mikronährstoff versorgt, die extrem Hellhäutigen erreichten sogar besonders niedrige Serumwerte3.
Wie häufig Vitamin-D-Defizite in den mittleren Breiten vorkommen und wie vielfältig die Auswirkungen sein können, illustriert auch eine Untersuchung im nördlichen US-Bundesstaat Minnesota. Die Patienten dieser Studie litten an unspezifischen Muskelschmerzen.
93 Prozent hatten ungenügende Vitamin-D-Werte, ein Drittel sogar einen gravierenden Mangel. Defizite hatten dabei bezeichnenderweise alle Teilnehmer afrikanischer Herkunft, alle Latinos und alle nativen Amerikaner, also alle dunkelhäutigen Personen. Die niedrigsten Plasmawerte wurden entgegen allen Erwartungen bei unter 30-jährigen Probanden gefunden4.
Die Minnesota-Studie ist nicht die einzige, die Schmerzen in Verbindung mit Vitamin-D-Mangel bringt. Eine in einem Land mit sehr intensiver Sonnenstrahlung und Schleierpflicht für Frauen (Saudi-Arabien) durchgeführte Untersuchung an Patienten mit chronischen, d. h. mehr als sechs Monate andauernden, Rückenschmerzen hatte bei über achtzig Prozent von ihnen ungewöhnlich niedrige Vitamin-D-Serumkonzentrationen festgestellt. Neunzig Prozent der Patienten waren Frauen. Nach einer Behandlung mit Supplementen verbesserten sich die Symptome bei allen Probanden mit sehr niedrigem Vitamin-D-Werten und bei 95 Prozent aller Patienten5.
Für eine grundsätzlich höhere Vitamin-D-Tageszufuhr sprechen viele Beobachtungen: Eine ganze Reihe von Erkrankungen zeigen einen Zusammenhang mit der Intensität der UV-Strahlung in der jeweiligen Region6: Weit vom Äquator entfernt lebende Menschen haben ein höheres Risiko für eine Reihe von Krebsarten als Menschen, die näher am Äquator wohnen. Dies betrifft unter anderem Darm-, Bauchspeicheldrüsen-, Prostata- und Brustkrebs sowie das Hodgkin-Lymphom. Höher ist dabei nicht nur das Risiko zu erkranken, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, an der jeweiligen Krankheit zu sterben. Mit der Entfernung zum Äquator sinkt die UV-Exposition und damit auch die Vitamin-D-Synthese in der Haut.
Ähnliches gilt für Diabetes Typ I, Multiple Sklerose und Morbus Crohn. Bei größerer Entfernung zum Äquator ist das Risiko nicht nur für diese Autoimmunerkrankungen höher, auch die Wahrscheinlichkeit, an Bluthochdruck oder Gefäßleiden zu erkranken, steigt. Das Ergebnis einer Metaanalyse britischer Forscher auf der Basis von 28 verschiedenen Studien weist in die gleiche Richtung. Die Wissenschaftler untersuchten allein die Zusammenhänge zwischen Vitamin-D-Serumwerten und Herz-Kreislaufkrankheiten, Diabetes und metabolischem Syndrom. Mit eindeutigem Resultat: Menschen mittleren und fortgeschrittenen Alters mit dem höchsten Vitamin-D-Blutspiegel litten massiv seltener an einer dieser Erkrankungen, als ihre Altersgenossen mit den niedrigsten Serumwerten. Im Einzelnen waren Herz- und Gefäßstörungen um 33 Prozent reduziert, Diabetes Typ II um 55 Prozent und das metabolische Syndrom um 51 Prozent7. Die ausgewerteten Studien umfassten dabei die Daten von fast einhunderttausend Personen (99.745) verschiedenen Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft.
Wie konservativ die bisherigen Richtwerte angesetzt waren, zeigt auch der Blick auf verschiedene Krebserkrankungen. Es gibt viele Hinweise, dass Vitamin D vor Krebs schützen kann. Allerdings nur relativ hoch dosiert: Um die Zahl verschiedener Erkrankungen wie Brust- und Darmkrebs sowie Diabetes Typ I und Multipler Sklerose zu halbieren, sollten demzufolge Erwachsene täglich 4.000 bis 8.000 I.E. zu sich nehmen. Das ist das fünf- bis zehnfache des jetzt heraufgesetzten Richtwertes. Bis zu 4.000 I.E. erachtet die US-amerikanische Nationale Akademie der Wissenschaften auf jeden Fall als unbedenklich8.
Quellen:
1) Fuleihan GE-H et al.; Short term and long term safety of weekly high dose vitamin D3 supplementation in school children. J. Clin. Endocrinol. Metab., April 29, 2008; DOI: 10.1210/jc.2007-2530
2) Bischoff-Ferrari HA; Fall prevention with supplemental and active forms of vitamin D: a meta-analysis of randomised controlled trials BMJ 2009; 339: b3692; DOI: 10.1136/bmj.b3692
3) Davies JR et al.; The determinants of serum vitamin D levels in participants in a melanoma casecontrol study living in a temperate climate. Cancer Causes & Control, 2011; 22 (10): 1471; DOI: 10.1007/s10552-011-9827-3
4) Plotnikoff GA et al.; Prevalence of Severe Hypovitaminosis D in Patients With Persistent, Nonspecific Musculoskeletal Pain, Mayo Clinic Proceedings, Volume 78, Issue 12, Pages 1463-1470
5) Al Faraj et al.; Vitamin D Deficiency and Chronic Low Back Pain in Saudi Arabia, Spine, 15 January 2003; Volume 28: Issue 2: 177-179
6) Hollick M; Vitamin D Deficiency, N Engl J Med, 2007; 357: 266-81
7) Parkera J et al.; Levels of vitamin D and cardiometabolic disorders: Systematic review and meta-analysis, März 2010, Maturitas, Volume 65, Issue 3, Pages 225-236
8) Garland FC et al.; Vitamin D Supplement Doses and Serum 25-Hydroxyvitamin D in the Range Associated with Cancer Prevention. Anticancer Research, 2011; 31: 607-612