Nahrungsergänzung in der Diskussion – das sagen die Experten:
Streit ums Vitamin: Nutzen und Wirksamkeit von Vitalstoffen werden in der Öffentlichkeit zunehmend widersprüchlich diskutiert. Kein Wunder, denn die Auffassungen von Wissenschaftlern und Experten basieren oftmals auf unterschiedlichen Interpretationen von Studienergebnissen. Und während die Meinungen zwischen „gänzlich unschädlich – aber überflüssig“ und „gefährlich bei überdosierung“ schwanken, breitet sich in der Bevölkerung Verunsicherung aus. Auch deshalb haben sich die Experten der Deutsche Apotheker Zeitung (DAZ) jetzt in einer Schwerpunktausgabe (Nr. 35, 150. Jahrgang, 02.09.2010) eingehend mit dem Thema Nahrungsergänzungsmittel (NEM) beschäftigt. GIVE fasst die Ergebnisse zusammen.
Wenn das „wenn“ nicht wäre: Denn „wenn“ die Maßgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) eingehalten würden, könnte man getrost auf Nahrungsergänzungsmittel verzichten. Dass die Realität allerdings oftmals eine andere Sprache spricht, wird schon durch die Definition einer entsprechenden Ernährung deutlich: „Eine ausgewogene Kost, die reich an Gemüse, Obst und Vollkornprodukten ist, Milch und Milchprodukte, maßvolle Mengen an Fleisch und Eiern sowie ein- bis zweimal wöchentlich Seefisch einschließt, erfüllt alle Vorgaben einer bedarfsdeckenden und gesunderhaltenden Nährstoffzufuhr,“ heißt es bei Hamm et al.1
Verzehrsstudie lässt auf Unterversorgung schließen
Experten sehen daher bei bestimmten Bevölkerungsgruppen durchaus Versorgungsrisiken, insbesondere mit Vitamin D, Folsäure, Iod, Eisen und Calcium sowie Omega-3-Fettsäuren. Und die Ernährungswissenschaftler bezweifeln weiter, dass ein erhöhter Nährstoffbedarf über die normale Nahrungsaufnahme angemessen zu decken ist. Anhand der Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie II und des Ernährungsberichtes der DGE aus 2008 lässt sich nämlich auf eine weit reichende Unterversorgung mit bestimmten Vitalstoffen schließen. So werden die Zufuhrempfehlungen und Referenzwerte für die Aufnahme von Obst und Gemüse lediglich von einem Bruchteil der Bevölkerung erreicht. Zum Beispiel liegen die zugeführten Mengen an Vitamin D, Iod, Eisen, Calcium, Folsäure und Vitamin E in den meisten Fällen weit unter den Referenzwerten.
Die definierten Risikogruppen mit erhöhtem Vitalstoffbedarf sind dem Bericht zufolge: Schwangere und Stillende – bei ihnen besteht ein Mehrbedarf an Mikronährstoffen, insbesondere an Folsäure, Iod, Vitamin D, Calcium und langkettigen Omega-3-Fettsäuren (Docosahexaensäure); Kinder und Jugendliche – „in der sensiblen Phase des Wachstums, der körperlichen und geistigen Entwicklung ist eine bedarfsdeckende Versorgung mit Calcium, Iod, B-Vitaminen, eventuell Eisen und langkettigen Omega-3-Fettsäuren sicherzustellen“; Senioren – denn bei sinkendem Energiebedarf bleibt der Bedarf an Mikronährstoffen unverändert, teilweise sogar leicht erhöht. Appetitlosigkeit, nachlassendes Hunger- und Durstempfinden sowie Kau- und Schluckstörungen erschwerten aber eine ausreichende Versorgung. Besonders kritische Nährstoffe hier: Vitamin D, Calcium, B-Vitamine und langkettige Omega-3-Fettsäuren.
Beispiel Frauen mit Kinderwunsch: Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt dieser Gruppe die tägliche Zufuhr von 400 μg Folat durch Nahrungsergänzungsmittel zusätzlich zur Aufnahme durch die „normalen“ Mahlzeiten, damit Neuralrohrdefekte bei Kindern vermieden werden können. „Frauen im gebärfähigen Alter sind verstärkt von Ärzten, Apothekern und Ernährungsfachkräften auf die Bedeutung einer Nahrungsergänzung hinzuweisen“, folgern die Autoren daher aus Ergebnissen einer aktuellen englischen Studie, die zeigt, dass lediglich drei Prozent der untersuchten Frauen vor der Schwangerschaft Folat einnahmen. Außerdem sehen die Ernährungsexperten auch bei Senioren, Menschen mit Unverträglichkeiten oder bei Personen, die auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten (z. B. Vegetarier oder Veganer), die Möglichkeit, durch NEM die Nährstoffaufnahme zu sichern.
Wechselwirkungen berücksichtigen
Doch wie lassen sich Referenzwerte für bestimmte Mikronährstoffe überhaupt festlegen? „Der Bedarf wurde in der Ernährungswissenschaft bislang als die Zufuhr eines bestimmten Nährstoffs definiert, die ausreicht, eine spezifische Mangelkrankheit zu vermeiden. Diejenige Menge, die die Mangelsymptome gerade noch verhindert, galt als „minimaler täglicher Bedarf“. Mit unterschiedlichen Sicherheitszuschlägen errechnete sich daraus die Zufuhrempfehlung,“ heißt es dazu bei Hamm et al. Berücksichtigt werden muss allerdings, dass nach aktuellen Erkenntnissen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Nährstoffen und Nährstoffgruppen auftreten. So hilft beispielsweise alleine die Zufuhr von Calcium nicht beim Erhalt der Knochensubstanz, solange nicht auch in ausreichendem Maße Vitamin D, Vitamin K sowie weitere Mineralstoffe eingenommen werden.
„Die zusätzlich zugeführte Menge sorgt vorübergehend für höhere Konzentrationen (…), was sich möglicherweise positiv auf die Gesundheit auswirkt. Die oft geäußerte Behauptung, die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln produziere nur ‚teuren Urin‘, ist deshalb nicht gerechtfertigt“, so die Folgerung im DAZ-Artikel. Allerdings sollte auch bei NEM immer eine Abwägung zwischen dem Nutzen und einem eventuellen Risiko der Einnahme vorgenommen werden. Werden die Referenzwerte für die Aufnahme nicht langfristig überschritten, sind die Risiken aber zu vernachlässigen. Interessant: Im angelsächsischen Raum geben Ernährungswissenschaftler sogar die Empfehlung, NEM als „Versicherung“ vor Defiziten in der Nährstoffversorgung einzunehmen.
Abwägen von Risiko und Nutzen
Es ist zu beobachten, dass auch eine intensivere Ernährungsaufklärung in der jüngsten Vergangenheit keinen signifikanten Einfluss auf die Essgewohnheiten der Bevölkerung hatte. Insbesondere gilt dies für bildungsferne Schichten. Bei ihnen lassen sich vergleichsweise häufig „ungünstige Ernährungsmuster“ erkennen, die mit einer Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen einhergehen. Die Autoren sehen hier einen weiteren Ansatzpunkt für den Einsatz von NEM. Dennoch ist ihnen bewusst, dass Medien häufiger über potentielle Risiken als über die Chancen eines vernünftigen Einsatzes von Nahrungsergänzungsmitteln berichten. „Eine ideologiefreie und sachliche Information mit realistischer Abwägung von Risiko und Nutzen ist dringend erforderlich“, mahnen sie daher. Die Diskussion ums Vitamin soll und wird also weitergehen.
Quelle:
<1) Hamm M, Ellrott T, Terlinden S, Vormann J; NEM in der fachlichen und öffentlichen Diskussion, Deutsche Apotheker Zeitung, 150. Jahrgang, 02.09.2010, Nr. 35, S. 46 – 53