Fragen von Kirsten Rademacher (freie TV-Moderatorin) an Prof. Dr. med. Ludwig Quaas, Gynäkologe am Evangelischen Diakoniekrankenhaus in Freiburg und Prof. Dr. med. vet. Klaus Pietrzik, Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.
Rademacher: Im Hinblick auf Vorsorge in der Schwangerschaft wird immer zuallererst Folsäure genannt. Warum ist dieses Vitamin so wichtig?
Prof. Quaas: Folsäure bzw. korrekter Folat spielt eine wichtige Rolle bei der Zellteilung. Bei einem Folsäuremangel kann sich unter Umständen am Ende des ersten Schwangerschaftsmonats das Neuralrohr nicht richtig ausbilden. Daraus können angeborene Fehlbildungen resultieren; beispielsweise spina bifida (offener Rücken). Wir wissen, dass die Häufigkeit solcher Fehlbildungen direkt abhängig von der Folsäureversorgung ist. Mediziner führen bis zu 70 Prozent aller Neuralrohrdefekte auf einen Folsäuremangel zurück.
Rademacher: Gibt es besondere Risikofaktoren für eine Unterversorgung mit Folsäure?
Prof. Quaas: Frauen, die bereits ein Kind mit einem Neuralrohrdefekt haben, oder in deren Familie solche Fälle aufgetreten sind, haben natürlich ein erhöhtes Risiko und sollten deshalb präventiv eine höhere Folsäuredosis zuführen. Dies gilt genauso für vorausgegangene Mehrlingsschwangerschaften, nach mehreren rasch aufeinander folgenden Geburten oder nach Aborten. Der erhöhte Folsäurebedarf kann auch durch bestimmte Medikamente bedingt sein. Ebenso entsteht ein gesteigerter Bedarf an Folsäure durch Alkoholkonsum und Rauchen; aber beides sollte man während einer Schwangerschaft ohnehin unterlassen.
Rademacher: Wie kann man denn sicher stellen, einen mindestens ausreichenden Folatspiegel zu haben?
Prof. Pietrzik: Der Folatbedarf von Schwangeren und Stillenden beträgt 600 Mikrogramm (μg). Frauen im gebärfähigen Alter nehmen allerdings durchschnittlich nur 220 μg Folat mit der Nahrung auf. Daraus ergibt sich ein Folatdefizit von 380 μg pro Tag. Zwar ist es theoretisch möglich, den gesamten Bedarf über die Ernährung zu decken, jedoch müssten dann mindestens fünf Portionen Obst und Gemüse sowie vermehrt Leber verzehrt werden. In der Realität werden diese Empfehlungen meist nicht umgesetzt, so dass Frauen die Supplementierung bereits ab Kinderwunsch über das erste Trimenon hinaus bis zum Ende der Stillzeit weiterführen sollten.
Rademacher: Wieso schon ab Kinderwunsch? Reicht es nicht aus, wenn man sofort nach Schwangerschaftsbeginn Folsäurepräparate einnimmt?
Prof. Pietrzik: Nein, das reicht nicht, weil zur wirksamen Vorbeugung eines Neuralrohrdefekts bereits vor der Schwangerschaft ein ausreichend hoher Folatspeicher aufgebaut werden muss, der u. a. durch den Folatgehalt in den roten Blutkörperchen charakterisiert wird. Selbst wenn man täglich hoch dosierte Folsäurepräparate einnimmt (800 μg), dauert es rund vier Wochen, bis der Folatspiegel in den roten Blutkörperchen erreicht ist. Nimmt man 400 μg Folsäure, so dauert es ca. 2 bis 3 Monate. Deshalb wird Frauen empfohlen, Folsäure bereits dann zu supplementieren, wenn sie sich ein Kind wünschen.
Rademacher: Was ist der Unterschied zwischen Folsäure und Folat?
Prof. Pietrzik: Die natürlichen Folate kommen sowohl in pflanzlichen als auch tierischen Lebensmitteln vor. Besonders folatreich sind Zitrusfrüchte, Spinat, Salat, Spargel, Tomaten, Gurken sowie auch Getreide und Leber. Im Gegensatz dazu ist Folsäure eine synthetische Verbindung, die es als solche in der Natur nicht gibt. Folsäure muss im menschlichen Körper erst zu biologisch aktiven Folatverbindungen umgewandelt werden, wobei die wichtigste Folatform
5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF) ist.
Rademacher: Worauf sollte man bei Präparaten für Frauen mit Kinderwunsch und Schwangere achten?
Prof. Pietrzik: Etwa die Hälfte der Bevölkerung kann wegen einer genetisch bedingten verminderten Enzymaktivität Folsäure nicht vollständig in die biologisch wirksame Form 5-MTHF überführen. Wenn allerdings nicht nur Folsäure, sondern zusätzlich direkt 5-MTHF (oder Calcium-L-Methylfolat) eingenommen wird, kann dieses praktisch vollständig verwertet werden, weil es nicht erst umgewandelt werden muss.
Quelle:
Ludwig Quaas: Folat in der Schwangerschaft, StatusQuo und Praxis; Klaus Pietrzik, Neubewertung von Folsäure und Folat; Vorträge bei einem Experten-Roundtable „Mutterschaftsvorsorge aktiv gestalten”, Darmstadt, 17. Nov. 2009