Wie viel Vitalstoff braucht der Mensch?
Wir haben alle eine Vorstellung davon, was ein „Vitamin“ ist, andere Begriffe wie „Nahrungsergänzungsmittel“ oder „Mikronährstoffe“ sind uns mehr oder weniger geläufig. Die Fachwelt kann diese Bezeichnungen recht klar definieren und abgrenzen, den allermeisten Laien dagegen genügt es, zu wissen, dass man ohne diese Substanzen nicht leben kann. „13 Vitamine, 15 Mineralstoffe, 8 Aminosäuren und verschiedene Fettsäuren müssen lebenslang mit der Nahrung zugeführt werden, dazu kommen einige Tausend Pflanzeninhaltsstoffe, die wichtige Funktionen im Stoffwechsel übernehmen“, so beschreibt Prof. Dr. Dr. med. Karlheinz Schmidt, Mediziner und Chemiker an der Universität Tübingen, den aktuellen Wissensstand*.
Gute alte Bekannte
So verwirrend diese Vielfalt sein mag, wir haben ein enormes Wissen über Vitalstoffe & Co. Damit sind nicht einmal die Naturwissenschaftler und Mediziner gemeint, sondern jeder einzelne Organismus. Unsere Evolution wäre ohne Vitamine und Mineralien gar nicht möglich gewesen. Es sind unverzichtbare Faktoren für das reibungslose Funktionieren des Körpers, mit denen er seit Millionen von Jahren Erfahrung hat. Vitalstoffe sind folglich alte Bekannte, mit denen man aber richtig umgehen sollte. Für den Einzelnen stellen sich daher die Fragen: Nehme ich genügend Vitamine und Mineralien über die Ernährung zu mir? Benötige ich zusätzliche Nahrungsergänzungsmittel für eine optimale Versorgung und welche konkret? Kann es sein, dass ich zuviel eines Mikronährstoffs zu mir nehme und damit meiner Gesundheit sogar schade?
Des Guten zu viel oder zu wenig?
Mit der Frage nach einem „grünen Bereich“ will man eigentlich den Ist-Zustand dem Soll-Zustand anpassen, und dafür benötigt man einen Referenzwert. Den gibt es tatsächlich vor allem für Vitamine und Mineralstoffe „Die empfohlene Zufuhr ist die durchschnittliche tägliche Nährstoffaufnahme, die ausreicht, um den Bedarf nahezu aller (97,5 Prozent) gesunden Individuen einer definierten Personengruppe zu decken“, so Prof. Schmidt. Diese Referenzwerte sind allerdings nicht als starre Richtlinien zu verstehen, sie entsprechen dem jeweiligen wissenschaftlichen Wissensstand und können demnach immer nach oben oder unten korrigiert werden. „Es verändert sich ja auch die Bevölkerung ständig, so werden wir in der Bundesrepublik immer älter, immobiler und adipöser“, so der Tübinger Mediziner.
Blickt man auf die aktuelle Ernährungslage in Deutschland, erscheint ein „Zuviel“ an Vitalstoffen eher unwahrscheinlich. Das Risiko einer Überdosierung durch legal im Verkehr befindliche Nahrungsergänzungsmittel und bei sachgemäßer Verwendung des Endverbrauchers ist gering, zumal die Dosierung in einem sicheren ernährungsphysiologischen, nutritiven Bereich erfolgt und sich die Mengen in der Regel weit unter den erlaubten Höchstmengen befinden. Es besteht im Gegenteil eher der umgekehrte Fall eines Risikos einer Unterversorgung. Laut den Ergebnissen der Nationalen Verzehrsstudie II aus dem Jahr 2008 des Max-Rubner-Instituts/Karlsruhe ist die Situation sogar alarmierend: 86 Prozent der Frauen und 79 Prozent der Männer sind nicht ausreichend mit Folsäure versorgt, noch schlechter ist die Lage bei Vitamin D. Aber auch bei anderen Mikronährstoffen wie z. B. Vitamin C, Eisen und Jod werden zum Teil deutliche Defizite gefunden.
Gründe für diese nationalen Defizite gibt es mehrere. „Der idealen Ernährung steht die reale Alltagskost entgegen“, erläutert Prof. Dr. Michael Hamm von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg*. Der Ökotrophologe sieht fehlendes Ernährungsbewusstsein und Ernährungswissen, das häufige und zum Teil rigorose Diätverhalten aus Gewichtsgründen, Zeitmangel, den großen Anteil an Fast Food und Fertigprodukten, den hohen Verarbeitungsgrad der Lebensmittel sowie Fehler bei der Lagerung und Zubereitung von Gemüse und Salat als die wesentlichen Hemmnisse für eine vollwertige Ernährung.
Einer Mangelsituation an Vitalstoffen kann man mit einer zusätzlichen Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln begegnen. Und dann könnte sich die Frage des „Zuviel“ stellen. Dazu Prof. Schmidt: „Wir haben jahrzehntelange Erfahrung über die Sicherheit höherer Zufuhren und können daher sagen: Zu wenig ist bedenklich, zu viel recht selten!“
Wer hat es nötig?
Die wissenschaftlichen Untersuchungen dokumentieren nicht nur ein weit verbreitetes Vitalstoff-Defizit, sondern auch ein besonderes Versorgungsrisiko für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Hierzu zählen laut Prof. Hamm Schwangere und Stillende bei gesteigertem Mehrbedarf an Mikronährstoffen bei verhältnismäßig geringem Mehrbedarf an Energie sowie Kinder und Jugendliche im Wachstum. Weitere Risikogruppen sind Sportler, Senioren und Vegetarier, hier insbesondere Veganer. Sie müssen daran denken, dass bestimmte Mikronährstoffe aus pflanzlicher Nahrung mit anderen pflanzlichen Inhaltsstoffen interagieren können und daher für den Körper nicht so gut verfügbar sind wie bei tierischer Nahrung. „Generell ist darauf zu achten“, so Prof. Hamm, „dass bei dem Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittelgruppen nicht auch auf einen Mikronährstoff verzichtet wird.“
Natürlich hängt der individuelle Vitalstoff-Bedarf auch von persönlichen Faktoren ab, dazu zählen Alter, Geschlecht, Körpergröße, Gewicht, Gesundheitszustand, berufliche Anforderungen, die Einnahme von Medikamenten oder Genussmitteln wie Alkohol oder Tabak u. a.
Uwe Gröber, Apotheker und Leiter der Akademie für Mikronährstoffmedizin in Essen, sieht in einer ausreichenden Vitalstoff-Versorgung wichtige Voraussetzungen für ein starkes Immunsystem, für die körperliche und geistige Entwicklung und für die allgemeine Leistungsfähigkeit. Insbesondere Vitamin D3 und Calcium, Folsäure und Vitamin B12, Vitamin C, bestimmten Omega-3-Fettsäuren wie Docosahexaensäure (DHA), Magnesium und Selen bescheinigt er ein „hohes Potenzial zur Vorbeugung ernährungsbedingter Erkrankungen“*. Er sieht aber auch das Problem, das sich dem Einzelnen stellt: Wie kann jeder individuell beurteilen, wie gut er mit Vitalstoffen versorgt ist? „Ich würde zuerst meine persönlichen Umstände – also Ernährung und Lebensstil – betrachten und abschätzen, ob ich zu einer Risikogruppe zähle. Dann ist es sinnvoll, kompetenten Rat z. B. in einer Apotheke einzuholen. Wer ganz sicher gehen möchte, dem empfehle ich, die kritischen Mikronährstoffe durch labormedizinische Untersuchungen kontrollieren zu lassen.“
Fazit: Der Körper braucht seine Vitalstoffe, ohne sie kann er nicht existieren. Die Gefahr einer Überversorgung ist in der Realität kaum gegeben, tatsächlich weisen breite Bevölkerungskreise und hier besonders bestimmte Risikogruppen dauerhaft ein Defizit an einzelnen Mikronährstoffen auf.
* anlässlich eines Expertengesprächs im Oktober 2009 in Münster